Expertise des VBE zeigt Verdopplung der Schüler mit Förderschwerpunkt „ESE“

Der Verband Bildung und Erziehung (VBE) hat eine Expertise zum Thema „Welchen Förderbedarf haben Kinder mit emotional-sozialen Entwicklungsstörungen?“ in Auftrag gegeben. Die Studie von Prof. Dr. Ahrbeck hat ergeben, dass sich die Zahl der Schülerinnen und Schüler mit dem Förderschwerpunkt „Emotionale und soziale Entwicklung“ verdoppelt hat. Gerhard Brand, Landesvorsitzender Baden-Württemberg und stellvertretender Bundesvorsitzender, macht auf verschiedene Faktoren dieser Entwicklung aufmerksam.

Die vom VBE in Auftrag gegebene wissenschaftliche Expertise „Welchen Förderbedarf haben Kinder mit emotional-sozialen Entwicklungsstörungen?“ von Prof. Dr. Bernd Ahrbeck (Humboldt-Universität zu Berlin) belegt, worauf betroffene Lehrkräfte immer wieder hinweisen: Kinder mit emotional-sozialen Entwicklungsstörungen zeigen eine ausgeprägte Symptomatik, die nur durch sonderpädagogische Fördermaßnahmen aufgefangen werden kann. In der Regel können dies nur entsprechend ausgebildete Sonderpädagogen leisten. Gleichzeitig wird offenbar, dass die Zahl der Kinder, die einen entsprechenden Förderbedarf attestiert bekommen, in den letzten Jahren drastisch gestiegen ist.

„Um den Schulbetrieb im inklusiven Bildungssystem aufrecht erhalten zu können, braucht es gerade für die Beschulung dieser Kinder in inklusiven Lerngruppen die Doppelbesetzung mit Lehrkraft und Sonderpädagoge und die Zusammenarbeit in multiprofessionellen Teams zur sonderpädagogischen Beschulung“, fordert Gerhard Brand, stellvertretender Bundesvorsitzender und Landesvorsitzender Baden-Württemberg des VBE.

Förderschwerpunkt „Emotionale und soziale Entwicklung“ hat hohe Zuwachsraten

Prof. Dr. Bernd Ahrbeck weist in der Expertise deutlich darauf hin, dass der Förderschwerpunkt „Emotionale und soziale Entwicklung“ hohe Zuwachsraten hat. In den letzten fünfzehn Jahren habe sich die Zahl der Schülerinnen und Schüler mit diesem Förderschwerpunkt verdoppelt. Anhand von Zahlen der Kultusministerkonferenz ist nachzuvollziehen, dass

  • 2005 über 46.000,
  • 2010 schon 62.500,
  • 2015 über 85.500 Schülerinnen und Schüler

einen festgestellten Anspruch auf sonderpädagogische Förderung im Bereich der „emotionalen und sozialen Entwicklung“ hatten. Das entspricht einer Steigerung von ca. 86 Prozent in 10 Jahren.

Problematisch ist, dass nicht alle Fälle erfasst sind. Die Dunkelziffer liege noch deutlich höher, erklärt Prof. Dr. Ahrbeck: „Studien zeigen, dass bis zu 17 Prozent eines Jahrgangs psychisch erkrankt sind. Bis zu 10 Prozent der Kinder und Jugendlichen sind behandlungs- und beratungsbedürftig. Es haben zwar nicht alle dieser Kinder einen Förderbedarf bei der emotional-sozialen Entwicklung, aber es kann von einer hohen Korrelation ausgegangen werden.“

Vielfältige Ursachen für Zunahme

Die Ursachen für das Auftreten und die steigende Rate sind vielfältig und nicht monokausal. Die KMK schrieb hierzu in einem 2000 veröffentlichten Papier: „Erfahrungen von Alleingelassensein, das Erleben von Angst und Hilflosigkeit, von Armut, sozialem Ausschluss, auch emotionale Überforderung und Trennungsängste oder sexueller Missbrauch können zu aggressiven wie auch regressiven oder introvertierten Verhaltensweisen führen.“

Brand ergänzt: „Wir sehen zunehmend, dass beide Elternteile gezwungen sind, arbeiten zu gehen, um den Lebensunterhalt für die Familie zu sichern, und deshalb immer häufiger nicht mehr die notwendige Zeit haben, sich um die Belange der Kinder und deren Erziehung zu kümmern. Wenn es uns nicht gelingt, Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu erreichen, wird sich diese negative Entwicklung fortsetzen. Wir haben hier ein gesellschaftliches Problem, das nicht allein auf die Eltern geschoben werden darf!“ Mit Blick auf die hohe Zahl an Flüchtlingskindern, die teilweise stark traumatisiert sind, warnt Gerhard Brand: „Diese Kinder sind durch ihre Erfahrungen einem besonderen Risiko ausgesetzt, verhaltensauffällig zu werden und sind deshalb darauf angewiesen, in ihrer emotional-sozialen Entwicklung besonders gefördert zu werden. Auch deshalb muss die Politik reagieren.“

Der Landesvorsitzende reagiert auch auf die Erklärungsansätze, dass die Nutzung von digitalen Endgeräten psychische Erkrankungen und Verhaltensauffälligkeiten unterstütze: „Bei einer ungefilterten, unlimitierten und lediglich quantitativen Nutzung von Medien leiden nicht nur physische Strukturen, sondern auch das soziale Leben. Die Antwort ist jedoch nicht digitale Abstinenz, sondern ein verantwortungsvoller Umgang mit Medien. Teil der Prävention muss daher die Herausbildung umfassender Medienkompetenz sein.“

Rahmenbedingungen der Politik stimmen nicht

Prof. Dr. Ahrbeck stellt heraus: „Kinder mit dem Förderschwerpunkt ‚Emotionale und soziale Entwicklung‘ müssen stark individualisiert und personell gebunden unterstützt werden, wenn die Förderung zum Erfolg führen soll. Gerade die Beziehung zu einem festen Ansprechpartner ist ein wichtiger Baustein in der Förderung ihrer Entwicklung. Welcher Ort aber der richtige ist, hängt entscheidend von den Ausstattungsmerkmalen ab. Eine intensivpädagogische Betreuung kann auch an Regelschulen gelingen, wenn die dazu dringend benötigten Rahmenbedingungen bereitgestellt werden. Sie sind für ein Gelingen unerlässlich.“

Brand verstärkt: „Momentan stimmen die von der Politik zur Verfügung gestellten Bedingungen einfach nicht! Es braucht die sonderpädagogisch fundierte Förderung, um Kindern mit attestiertem Förderbedarf und den vielen Kindern mit psychischen Problemen das gemeinsame Lernen zu ermöglichen. Erforderlich ist nach Meinung des VBE Baden-Württemberg ebenfalls, dass Raumkonzepte umgesetzt werden, die individualisierten Unterricht und Förderung in Kleingruppen ermöglichen. Außerdem müssen weitere Professionen einbezogen werden. Das Arbeiten in multiprofessionellen Teams ist insbesondere für eine angemessene Förderung von Kindern mit dem Förderschwerpunkt ‚Emotionale-soziale Entwicklung‘ unabdingbar.

Die Expertise von Prof. Dr. Ahrbeck finden Sie im Downloadbereich.

Das Papier der Kultusministerkonferenz (KMK) von 2000 können Sie unter diesem Link abrufen.