Lehrermangel: Die Lage

Lehrermangel

„Es sind keine Lehrer da, weg, sie sind gleich nach dem Referendariat wieder fort in andere Bundesländer, da oben im Norden und Nordwesten des Landes; und sie verschmähen die Segnungen des baden-württembergischen Schulwesens. Vermutlich sind sie auch bald wieder auf und davon über die südliche Grenze in die Schweiz, die einfach sehr gut bezahlt. Unglaublich, die studieren hier und sind dann einfach weg. Warten einfach nicht ab, bis das Einstellungsverfahren auch in Baden-Württemberg beginnt und sie vielleicht irgendwo eine Stelle bekommen, sofern sie sich halt landesweit bewerben. Man bietet ja viel als Land Baden-Württemberg; das ist doch eine Perspektive, Landesbeamter, Lebenszeit, all das und jetzt sind sie weg. „Ja, wo sind sie denn alle hin, die Lehrer?“

Händeringend sitzen sie vor einem, die mit der Lehrereinstellung betrauten Menschen, die Mienen von sorgenvoll betroffen bis genervt kämpferisch. Man möchte sie trösten und helfen, dass ihre missliche hoffnungslose Lage in den bienenemsigen Lehrerbeschaffungsstrategiebüros etwas besser wird. Man fühlt die Schwere der Verantwortung: die attraktiven Gebiete, naja, könnten schon gut versorgt werden, aber auf der Schwäbischen Alb und im Schwarzwald, ganz schlimm, an der Grenze zur Schweiz … furchtbar schwer.

Und jetzt kämen noch mehr Flüchtlingskinder und es seien keine Lehrer mehr da. Lehrerinnen auch nicht. Man werde – und man müsse nun auf die Vernunft und den Pragmatismus der Personalvertretungen hoffen – schweren Herzens zuerst in Einzelfällen, dann zunehmend mehr auf geeignete Nichterfüller- und erfüllerinnen zurückgreifen, so man diese für befähigt halte. Ein Staatsexamen sollten diese aber haben, wenn möglich oder etwas Ähnliches, aber na ja, es ginge auch eine Berufsausbildung, möglichst abgeschlossen. Vielleicht werden sie, das könnte ja in den VKL Klassen helfen, Erfahrung mit Deutsch als Fremdsprache irgendwo herhaben.

Spätestens jetzt ist man als Personalrätin oder Verbandsfunktionärin selbst so betroffen, sieht nur noch unversorgte Klassen mit und ohne Flüchtlingskinder und ok, dann müssen halt gegen jedwede innere Überzeugung „Nichterfüller“ akzeptiert werden.

Aber dann klingelt irgendwann in Nordbaden das Telefon. Am Apparat ist eine junge Frau, die als Grundschullehrerin mit zugegebenermaßen eher mäßiger Gesamtqualifikation und deshalb bisher auch nicht eingestellt, gerne bereit wäre, zur Ansammlung von Zusatzqualifikationszeiten irgendwo, gern auch Flüchtlingskinder zu unterrichten. Sie ist örtlich nicht völlig, aber ziemlich flexibel, will für eine befristete Stelle nicht unbedingt umziehen, würde aber in der entsprechenden Eingruppierung arbeiten. Kein Problem.  Man hört sich das an, verweist darauf, es nochmals beim zuständigen RP zu versuchen und legt auf.

Ein paar Tage später wiederholt sich das. Am Telefon ist diesmal eine Realschullehrerin, GQ unter dem Schnitt für eine Einstellung, Erdkunde, Biologie und Deutsch, ein Jahr Erfahrung als Krankheitsvertretung. Auch sie würde gerne unterrichten. Ein Anruf beim zuständigen RP habe ergeben, dass es eben in der Region keinen Bedarf gebe. Sie jobbe derzeit und könne jederzeit einsteigen. 

Die nächste Sek I Lehrkraft, die anruft, hat eine gute Gesamtqualifikation, berichtet von drei KV Einsätzen bisher und möchte gern an eine GMS. Sie hat aber Familie und kann nicht ganz frei entscheiden, wohin sie zieht. Ihr Einsatzradius beträgt um die 50 Kilometer, was aber nicht ausreicht, um eine Stelle in Nordbaden zu bekommen. Vielleicht versuche sie es doch in Hessen oder Rheinland-Pfalz. Das sei näher.

Gibt es nicht Lehrermangel? Lehrermangel ja, aber alle kann man dann doch nicht gebrauchen. Schwierig zu vermitteln.

Lehrermangel: Auf Professionalität bestehen?

Man stelle sich folgende fiktive Situation vor: Ich, Realschullehrerin, Englisch und Bildende Kunst möchte meinem Leben nochmal einen anderen Spin geben. Ich bewerbe mich auf eine Anzeige in der Zeitung bei einem Friseursalon in meiner Heimatstadt. Da dort Fachkräftemangel herrscht, nimmt mich die Chefin. Eigentlich soll ich mal nur Hilfstätigkeiten ausführen. Doch schon nach kürzester Zeit muss ich übernehmen: Schneiden und Färben, Beratung, das volle Programm. Ausgebildete Friseurinnen sehen ab und zu mal über die Schulter und versuchen zu helfen, wenn ich was frage, haben aber selbst viel zu tun. In der Folge wurstele ich vor mich hin, verhunze auch mehrfach die Köpfe der Kunden und Kundinnen, was ich teilweise gar nicht merke. Eine Kundin informiert sich beim Verbraucherschutz, erstattet Anzeige, Amtsgericht usw. usw.

Natürlich sagen Sie jetzt, das geht doch auch gar nicht, ohne Ausbildung einfach beim Friseur bzw. im Handwerk zu arbeiten. Stimmt! Aber an unseren Schulen geht es. Menschen aller Berufe, sogar mit nicht abgeschlossenen Ausbildungen, arbeiten an allgemeinbildenden baden-württembergischen Schulen, zunehmend in Regelklassen. Für Kinder gibt es keinen Verbraucherschutz. Ich frage mich, was in den Kultusministeriumsköpfen in Stuttgart vorgeht, wenn sie das als gegeben hinnehmen. „Wird schon schiefgehen? So ein paar Kinder kann doch jede/r ein bißchen beschäftigen? 

Irgendwas in dieser Art muss es sein. Schulleitungen und Kollegien nehmen Nichterfüller an ihren Schulen zähneknirschend in Kauf, außer es geht mit diesen absolut gar nicht in den Klassen. Sie wissen, sonst kriegen sie oft gar niemanden. 

Qualifizierungsmaßnahmen für die bewährten, teilweise sehr gut und engagiert (scheinbar Naturtalente) arbeitenden Nichterfüller/innen gibt es trotz langjähriger Forderungen von Gewerkschaften und Verbänden nicht.

Es gibt sogenannte Nichterfüller, die bereits seit mehreren Jahren in dieser Situation arbeiten und wenn sie Glück haben von ausgebildeten Lehrkräften des Landes angeleitet wurden, wie es in etwa gehen könnte. Natürlich nebenbei.  Oft wurden Nichterfüller eingestellt um VKL Klassen zu unterrichten. Ich füge dem von mir vermuteten Gedankenspiel in Stuttgart noch „Für die Flüchtlingskinder muss es irgendwie reichen“ hinzu. Inzwischen werden Nichterfüller/innen aber auch in normalen Klassen eingesetzt. Sie sind allerdings billiger und man kann sie leichter wieder loswerden, wenn man sie mal nicht mehr brauchen würde. 

Von Absichtserklärungen des KM wie der Qualitätsoffensive für Schulen, über Baden-Württembergs Bildung im gesamtdeutschen oder sogar europäischen Vergleich bis zu Schlagworten wie etwa Tiefenstruktur des Unterrichts, ist mir einiges im Ohr. Wie soll das gehen? Mit Menschen, die ohne Ausbildung unterrichten?

Das hört man jetzt alles vermutlich sehr ungern in Stuttgart, aber was bitte soll man nach diesen vielen Jahren, in denen Lehrermangel das bestimmende Thema ist, sonst denken?

Ich bin im Gegensatz zu vielen anderen nicht der Meinung, dass die Bedarfsplanung für Lehrkräfte so einfach ist, wie sie sich populistisch gern mal darstellen lässt.

Da heißt es immer: man weiß doch, wie viele Kinder wann geboren wurden und wer wann in Pension geht. Das muss man halt planen. Ganz so einfach ist es nicht. Viele Kolleginnen und Kollegen gehen aus unterschiedlichen Gründen häufig früher in Pension als geplant, beantragen Teilzeit oder nehmen Sabbatjahre. Dazu kommen Erkrankungen, Schwangerschaften, Elternzeit usw. Alles zusammengerechnet dürfte das nicht wenig sein, kann aber nur per Glaskugel ermittelt werden. 

Lehrermangel: Lösungen in Sicht?

Ich kenne über Jahre keine Initiative einer Partei in Baden-Württemberg, die auch nur einen Vorschlag zur Lehrkräftebedarfsplanung oder Lehrkräftegewinnung gemacht hätte, der konkretere Gestalt annahm. Das Kultusministerium hatten und haben seit 11 Jahren drei Parteien inne, SPD, CDU und nun Grüne. Da kann es nun nicht mehr der eine auf die andere schieben.

Kam da was? Kommt da jetzt was? Ein bereits vor Jahren angekündigter weiterer Standort für Lehramtsstudiengänge lässt immer noch auf sich warten.

Man hört immer wieder mal, dass man darüber nachdenkt, eventuell darüber nachzudenken, die Ausbildungskapazitäten vielleicht zu erhöhen, indem man darüber nachdenkt einen weiteren Ausbildungsstandort einzurichten. Ob es zielführend wäre, einen weiteren Standort in Baden zu errichten, wo es schon die großen PHen in Heidelberg und Karlsruhe (Nordbaden) und Freiburg (Südbaden) gibt, um den großen Lehrermangel, der sich stärker in Württemberg entwickelt hat, zu bekämpfen, bleibt mal dahingestellt. Für die jüngeren Leserinnen und Leser: es gab in Württemberg auch einmal PHen in Esslingen und Reutlingen, die Mitte der 80er Jahre geschlossen wurden. Vielleicht wäre es eine Idee, durch die geografische Lage eines weiteren Studienortes bereits eine Bindung an eine Region zu fördern. Macht man sich eigentlich Gedanken in Stuttgart, warum es so wenige junge Lehrkräfte, die in Baden studiert haben, vielleicht sogar dahin nach dem Abitur umziehen mussten, dort auch das Referendariat absolviert haben, im Anschluss nicht nach Württemberg zieht? Vermutlich kommt ein neuer Standort aber sowieso nicht in Frage. Sie wissen schon, das Geld, das Geld.

Lehrkräftegewinnung. Lehrkräftegewinnung? 

Ich schildere hier einen mir persönlich bekannten Fall. Ein junger Mann aus dem Nordschwarzwald möchte an die PH Karlsruhe oder Heidelberg. Er bekommt einen Studienplatz in Heidelberg und verlegt seinen Lebensmittelpunkt in den Rhein-Neckar-Kreis und das sogar gern. Er zieht für sein Referendariat am südlichen Neckar erneut um, schließt mit Bestnoten ab und bekommt erstmal in seiner Wunschregion kein Stellenangebot, im zweiten Anlauf dann eine Stelle im Raum Künzelsau. Natürlich lebt unser junger Mann nicht zölibatär, sondern hatte bereits zu Ende des Studiums eine feste Partnerin. Diese hat inzwischen ebenfalls ein Studium (nicht als Lehrkraft) beendet und sich im Rhein-Neckar-Kreis beworben, da sie ja nicht wissen konnte, ob und wenn ja, wo der Partner ein Stellenangebot bekommt. Sie hat eine sehr gute Anstellung im öffentlichen Dienst bekommen. Man heiratet, die erste Tochter wird geboren. Der erste Versetzungsantrag gleich nach der Verbeamtung auf Lebenszeit, aus Nordwürttemberg nach Nordbaden, wird natürlich abgelehnt. Auf Nachfrage erhält der junge Kollege die Antwort, dass die Gattin ja umziehen könne. Die ist inzwischen in leitender Position und nicht an einer Hausfrauenehe in der Hohenlohe interessiert.

Kurz und gut, es gibt ein Happy End. Der Kollege wird nach einigen Jahren Wochenendehe doch noch in den Rhein-Neckar-Kreis versetzt. Da sag noch einer das Land Baden-Württemberg sei kein attraktiver Arbeitgeber.

Ein Einzelfall? Mitnichten!

Wie sehr muss man seinen Beruf mögen und das Land, um das alles zu akzeptieren. Überdies, wenn man an einem Ort wohnt, wo man mit Fahrrad oder Straßenbahn jeweils in einer halben Stunde Hessen oder Rheinland-Pfalz erreichen kann, die sich über gut ausgebildete Lehrkräfte aus Baden-Württemberg freuen und meistens ein paar Planstellen bereithalten.

Das Land glaubt noch immer, dass es normal ist, sich per mehrfacher Landverschickung freudig verbeamten zu lassen. Welches Menschenbild ist damit verbunden? Beziehungslose, sozial völlig unabhängige Menschen, oder Junglehrkräfte, die es kaum erwarten können, am Freitag nach dem Unterricht auf die Autobahn zu kommen um zu ihrem beibehaltenen Erstwohnsitz „heim“ zu fahren.

Eine Lebensplanung ohne eigenes Mitspracherecht ist für die derzeitige Generation von Abiturienten jenseits ihrer Vorstellungskraft. Zeiten und Lebensentwürfe ändern sich. Was früher vielleicht undenkbar war, passiert heute durchaus: Lehrkräfte, bereits verbeamtet auf Lebenszeit bitten um Aufhebungsverträge.

 Hat man im Blick, dass der Beruf bei Abiturientinnen und Abiturienten als so attraktiv nicht mehr gilt? Es hat sich rumgesprochen, dass „Lehrer haben morgens recht und mittags frei und das bei 12 Wochen Ferien“ ein Mythos ist.

Der Begriff „mehrjährige Verweildauer“ auf der ersten Stelle wird als Drohung empfunden. Nicht von allen jungen Lehrkräften, wohlgemerkt. Für viele ist das in Ordnung, aber nicht für genug, um alle offenen Stellen besetzen zu können.

Wäre es nicht an der Zeit neue Wege bei der Lehrereinstellung zu gehen? 

Um Abhilfe aus der Misere zu schaffen denkt man in Stuttgart an vorsintflutliche Beugemaßnahmen wie etwa unfassbare Kettenversetzungen (Bestandslehrkräfte werden aus „attraktiven“ Gegenden weiter weg versetzt, damit die Junglehrerin sich in Heidelberg Innenstadt, ihrem Wunschort einstellen lässt). Kreative Idee! Und so friedlich. Die Bestandslehrkraft zieht mit Mitte 40 um oder fährt stundenlang durch die Gegend, um ein nicht von Junglehrkräften gewünschtes Gebiet zu versorgen, damit die Junglehrkraft mit dem Fahrrad an die Wunschschule kann? Die warme Aufnahme im Kollegium kann ich mir jetzt schon vorstellen. 

Originell ist auch die Idee der „finanziellen Anreize“, wenn man sich bereit erklären würde eine Stelle auf dem „platten Land“ jenseits jeglicher persönlicher Wünsche zu gehen. Völlig sinnfrei. Die Idee freut auch besonders die Kolleginnen und Kollegen, die seit zig Jahren ihre Knochen in städtischen Brennpunktschulen hinhalten und dafür auch noch horrende Stadtmieten bezahlen. 

Es bläst immer mal wieder jemand laut ins politische Horn, dass man es bis zum Stammtisch hört und verkündet vermeintlich schlichte Lösungen für den Lehrermangel wie etwa die Erhöhung von Deputaten oder Klassenteilern. Der neueste Einfall ist die Erhöhung der Deputate von Referendarinnen und Referendaren, einem Personenkreis, der sich auf die Ausbildung konzentrieren und nicht für Versäumnisse in der Bedarfsplanung herhalten sollte, zumal das höchstens ein Tropfen auf dem heißen Stein des Lehrermangels sein könnte.

Lehrermangel: Kreative Ideen für die Lehrkräftegewinnung täten not, kommen aber nicht und werden nicht kommen. Oder doch?

Ein paar Fragen zum Lehrkräftemangel könnte man sich beispielsweise am KM stellen:

  1. Studieren an den PHen des Landes nur Leute, die später auch in Baden- Württemberg als Lehrkräfte arbeiten wollen?
  2. Falls nein, was tun?
  3. Ist der NC in Zeiten des Lehrermangels für Lehramtsstudiengänge angemessen, wenn die Zahl der Bewerberinnen und Bewerber die Zahl der Zulassungen um ein Vielfaches übersteigt?
  4. Kann ein NC das einzige Kriterium für die Zulassung sein?
  5. Bindet die räumliche Verteilung der Standorte der PHen Menschen an die verschiedenen Standorte bzw. die Regionen über ihr Studium hinaus?
  6. Wie kann man nicht ganz so beliebte Regionen mit Lehrkräften versorgen ohne mit Brechstangenmethoden zu nerven?
  7. Gibt es Beispiele, wie das andere Branchen machen und kann man davon lernen, wenn man schon selbst 40 Jahre lang keine Ideen hat? 
  8. Könnte man Kontakt zum Wissenschaftsministerium aufnehmen und die Misere      ( Zulassung, Ausbau von Studienplätzen…)  in lockerer Atmosphäre diskutieren? Und vielleicht mal zu einem Ergebnis kommen?

Jetzt mal in die Hände gespuckt, Frau Schopper. Wir warten darauf, dass die erste Grüne Kultusministerin zusammen mit einer Grünen Wissenschaftsministerin und einem Grünen Finanzminister den Unterschied in der Bedarfsplanung und Lehrkräfteversorgung des Landes Baden-Württemberg macht. Wir zählen auf Sie.

Andrea Friedrich, Landesbezirksvorsitzende Nordbaden