Vielleicht haben Sie es wahrgenommen: Eine zu Anfang des Jahres 2020 von der OECD veröffentlichte Studie ergab, dass Jugendliche ein Faible für traditionelle Berufe haben. Auch Lehrerin oder Lehrer lagen bei den Berufswünschen ganz weit vorne. Die beliebtesten Berufe bei 15-jährigen Teenagern:
Bei Mädchen:
1. Lehrerin (10,4 %)
2. Ärztin (10 %)
3. Erzieherin (6,4 %)
4. Psychologin (4,5 %)
5. Krankenschwester (4,5 %)
Bei Jungen:
1. IT-Spezialist (6,7 %)
2. Industriemechaniker (5,2%)
3. Automechaniker (5,1 %)
4. Polizist (4,5 %)
5. Lehrer (3,8 %) (Quelle: OECD)
Jugendforscher aller Art waren geschockt und Forderungen nach einer besseren Berufsberatung an den Schulen wurden laut, denn man ist mit dem Ergebnis scheinbar alles andere als zufrieden. Jugendliche und ihre Eltern seien angesichts der 350 Ausbildungsberufe und 12000 Bachelor Studiengänge überfordert. Deshalb griffen sie auf traditionelle Berufe zurück. Und die Berufswelt sei zu weit weg von den Schulen, so Jugendforscher Klaus Hurrelmann von der Hertie School of Governance. Die digitale Welt nehme nur einen kleinen Stellenwert ein. Die Polizei, bei den Berufswünschen bei Mädchen und Jungen unter den ersten 10 Plätzen werde auch deshalb gewählt, weil sie es richtig mache, denn die Polizei kommuniziere auf digitalen Kanälen. (Interview RNZ 23.01.2020)
Das hieße ja im Umkehrschluss, dass Zukunftsberufe im digitalen Bereich scheinbar nicht auf digitalen Kanälen kommunizieren, denn sonst wären sie beispielsweise so populär wie eben die Polizei. Wenn ich das vielfältige Medienecho nun richtig deute, hat man gehofft, dass sich Jugendliche nicht für die o.g. traditionellen Berufe interessieren, obwohl diese dringend gebraucht werden. Scheinbar ist es schlecht, dass sich Jugendliche nicht für so zukunftsweisende Berufe wie – ich habe mich mal kundig gemacht – Data Scientist, Cloud Architect, Cyber Security Consultant oder Scrum Master, interessieren, sondern Pfleger, Polizistin oder gar Lehrer werden wollen. Hat man also einen eventuellen Scrum-Master-Mangel zu wenig publiziert? Das wäre ja unverzeihlich. Ich gebe zu, dass ich mich echt gefreut hatte und ein bisschen stolz war, dass wir Lehrerinnen und Lehrer scheinbar zumindest vor unseren Schülern nicht gar so ein abschreckendes Beispiel abgeben und Jugendliche sich vorstellen können, wie wir an Schulen zu arbeiten. Oder es besser oder zumindest anders zu machen. Aber, Hand aufs Herz, würde ich einem jungen Menschen, den ich mag, heute überhaupt empfehlen Lehrerin oder Lehrer zu werden?
Man muss sich ernsthaft fragen: Gibt es eigentlich den originären Beruf des Lehrers/der Lehrerin noch?
Das, was wir uns unter einer Tätigkeit als Lehrerin oder Lehrer vorgestellt haben, als wir unser Studium aufnahmen, Wissensvermittlung und dazu etwas Erziehung, existiert so nicht mehr.
Lehrer*in: damals und heute
Bis ins 19. Jahrhundert wurden zumindest Lehrer an höheren Schulen als „Gelehrte“ betrachtet. In den sogenannten Volksschulen hingegen arbeitete ein eher gering qualifiziertes Lehrpersonal. Zu dieser Zeit gab es Lehrerinnen an Volks- und höheren Schulen nur vereinzelt, denn erst ab der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts war Frauen der Zugang zum Lehrerberuf überhaupt gestattet. Frauen erhielten mindestens ein Drittel weniger Gehalt als ihre männlichen Kollegen. Alle Fächer zu unterrichten war nur Männern vorbehalten. Sobald eine Lehrerin heiratete, gestattete ihr der Staat nicht mehr, den Beruf auszuüben. Dieser Lehrerinnenzölibat wurde erst 1919 abgeschafft. Das Ansehen des Lehrerberufes war historisch gesehen nicht besonders hoch und auch die Bezahlung war so gering, dass viele Lehrkräfte eine weitere bezahlte Tätigkeit ausüben mussten, um ihren Lebensunterhalt bestreiten zu können.
Heute hat sich die Situation zumindest wirtschaftlich stark verbessert, allerdings sind auch die Aufgaben stetig gewachsen und unterliegen ständigen Veränderungen und Ansprüchen. Neben der Lehrtätigkeit ist der Erziehungsanteil der Arbeit explosionsartig angestiegen. Lehrkräfte sind überdies in allen Schularten über ihren regulären Bildungs-und Erziehungsauftrag hinaus Spezialisten auf vielen Feldern mit hoher Beratungskompetenz geworden.
In den letzten Monaten habe ich gesammelt, in welchem Zusammenhang die Verantwortlichkeit von Lehrerinnen und Lehrern in den Medien und in der Öffentlichkeit genannt wurde. Da waren: Bildungsungerechtigkeit, Inklusion und Integration, Jugendarbeitslosigkeit, Desinteresse an Politik, Ernährungsmängel, Bewegungsdefizite, überhöhte Handyrechnungen, falsches Zähneputzen, Reizüberflutung, Medienerziehung, Internetmobbing, Gewalt, Drogen, Jungenvernachlässigung, Mädchenförderung, allgemeine Erziehungsnotstände und mangelnde Kompetenzen bei einer etwaigen Steuererklärung nach der etwaigen Aufnahme einer steuerpflichtigen Berufstätigkeit. Ganz aktuell ist die Idee der Dialektförderung.
Wann immer jemand einen Missstand oder ein Bedürfnis feststellt, wird reflexartig gefordert, dass sich die Schule darum kümmern muss. Um unser Kerngeschäft, die Wissensvermittlung ging es gar nicht. Von jährlich Tausenden- und Abertausenden bestandenen Bildungsabschlüssen habe ich auch nichts gelesen. Der gesellschaftliche Wandel drängt mit Macht in die Klassenzimmer. Erziehung wird häufig aus den Familien ausgelagert. Auch sind Werte wie Rücksichtnahme, Geduld, Fleiß und Ordnung nicht mehr unbedingt en Vogue sondern wurden mehr und mehr durch das hohe Ziel der Individualität ersetzt.
Der Leistungsgedanke steht immer wieder auf dem Prüfstand. Neue Fächer, Fächerverbünde, Digitalisierung, Schulentwicklung, Schulschließungen, Integration und Inklusion müssen von Lehrkräften stets neu geschultert werden. Unterstützungssysteme wie in anderen Berufen z.B. Coaching oder Supervision gibt es nicht in dem erforderlichen Maße. Dabei ist eine mögliche persönliche Weiterentwicklung einer Lehrkraft begrenzt. Eine Bewerbung auf Funktionsstellen, etwa ein Konrektorat oder eine Schulleitungsstelle sind die einzigen Karrieremöglichkeiten neben eventuellen stundenweisen Tätigkeiten an den Seminaren. Will eine Lehrkraft z.B. in Erziehungswissenschaften promovieren und beantragt deshalb eine Senkung des Deputates, obliegt es dem jeweiligen Regierungspräsidium im Thema der Promotion ein dienstliches Interesse zu erkennen. Meistens wird der Antrag abgelehnt.
Berufswunsch Lehrer*in: Die Generation Y wird Lehrer*in.
Ältere Kolleg*innen, die als Zugehörige der geburtenstarken Jahrgänge in nahezu allen Berufen überflüssig waren und überall mit dem Numerus Clausus zu rechnen hatten, waren Unbequemlichkeiten und einen ruppigen Umgang gewöhnt bis sie endlich die Urkunde zur Verbeamtung auf Lebenszeit in Händen hielten. An der PH saß man in den 80ern und 90ern in überfüllten Hörsälen auf den Treppen oder auf dem Waschbecken, im Referendariat wurde man bereits quer durchs Ländle verschickt und es reichte ein Fehlverhalten, um in höchste und finale Schwierigkeiten zu geraten. Nach dem Zweiten Staatsexamen ging man als Opfer der schon damals mangelhaften bildungspolitischen Planung trotz Bestnoten meistens leer aus. Viele Lehrkräfte wanderten nach dem Referendariat in andere Bundesländer ab oder orientierten sich beruflich völlig neu. Heute fehlt quasi eine ganze Generation an den Schulen. Die sehr wenigen offenen Stellenangebote mussten ohne Wenn und Aber spontan am Telefon angenommen werden. Festakte mit Celloklängen zur Vereidigung gab es nicht. Wer sich erlaubte, eine angebotene Stelle nicht anzunehmen, musste mit Androhungen ewiger Arbeitslosigkeit seitens des Landes rechnen.
Heute geht man bis zum Jahr 2025 von ca. 26000 fehlenden Lehrkräften aus. Das heißt, dass junge Lehrkräfte ein rares Gut und sehr gefragt sind. Teilweise sind auch heute die Methoden bei der Lehrereinstellung noch etwas rustikal, obwohl es sich schon sehr gebessert hat. Es erzeugt bei den Verantwortlichen der Schulverwaltung immer noch vereinzelt Schnappatmung, wenn junge Kolleg*innen die angebotene Stelle ablehnen, da sie nicht den jeweiligen Vorstellungen oder Ortswünschen entspricht. Um zu verstehen, warum die Verbindung zwischen derzeitigen Absolventen und /oder Studienwünschen der jetzigen Generation, die als Generation Y bezeichnet wird, nicht immer zustande kommt, sollte man versuchen, den Konflikt zu verstehen. Erzogen zu Selbstbestimmtheit und einem hohen Anspruch an individueller Freiheit in der Lebensgestaltung, ist es vielen jungen Lehrkräften nicht möglich sich vorzustellen über einen unbestimmten Zeitraum an einem Ort zu leben, der gar nicht ihr Wunsch ist. Der Begriff der „Mindestverweildauer“ an einem Ort ohne die Möglichkeit zu einer Versetzung macht Angst, den gewohnt flexiblen Lebensstil nicht realisieren zu können. Waren vorher noch Flexibilität und Mobilität bei Schüleraustausch, “Work and Travel“ und Auslandssemestern gefordert, sollen nun Anpassung und Verharren in nicht gewünschten Orten auf unbestimmte Zeit die Ultima Ratio sein.
Statt auf althergebrachten Maßnahmen zu bestehen, könnte ein aufgeschlossener Arbeitgeber, in dem Fall das Land Baden-Württemberg mit kreativen Lösungen aufwarten. Man könnte Optionen aufzeigen, Anreize schaffen eine Stelle zu nehmen und z.B. Einstellungspakete aus vermeintlich eher unattraktiven und attraktiveren Regionen schnüren. Vielleicht fände die eine oder der andere die ehemals ungewollte Region nach genauerem Kennenlernen gar nicht mehr so schlecht und würde bleiben.
Statt neuer Ideen rund um die Einstellung reagiert man aber in gewohnter Beugemanier mit Verweis auf das Beamtenrecht und denkt in Kategorien wie Kettenversetzungen der Bestandslehrkräfte um neuen Kollegen Platz zu machen. Wie überaus gestrig! Wie überaus peinlich, unwirksam und dem Schulfrieden abträglich!
Berufswunsch Lehrer*in: Um zum Anfang des Artikels zurückzukehren: Lehrer*in ist bei Jugendlichen noch immer unter den Top 10 Berufswünschen.
Kann man verstehen, dass junge Leute es lieber auf sich nehmen wollen bockigen und manchmal enervierend frechen Achtklässlern in oftmals maroden Gemäuern Mathe, Englisch, Geschichte, Chemie, Kunst oder Ballsportarten beizubringen, wo sie doch als z.B. Cloud Architect in klimatisierten Großraumbüros an einer Cloud arbeiten könnten, ohne dass sie jemand anmotzt oder sich Eltern beschweren?
Würde ich den Beruf noch einmal ergreifen? Das kommt darauf an, ob ich an schulorganisatorische Neuerungen in Tennisballmaschinengeschwindigkeit aus dem KM und an geisterbahnartige Bildungspläne denke. Auch Gedanken an Endlosdiskussionen bei zu vielen GLKen zu ewig wiederkehrenden Themen oder an Elternabende („Wo steht denn geschrieben, dass mein Sohn überhaupt ein Geo-Dreieck braucht?“) sprächen eher dagegen.
Wer aber daran denkt, welch immensen Einfluss wir Lehrkräfte auf das Leben von Menschen und damit auf die Gesellschaft haben, wer als Lehrkraft je Unterrichtsstunden erleben durfte, in denen alle Schüler im Thema so versunken waren, dass sie das Klingeln ignoriert haben, wer je gesagt bekommen hat, „Ohne Sie hätte ich den Abschluss nie geschafft!“ und weiß, dass das stimmt, der ahnt, wie cool der Job bei allem eigentlich unzumutbaren alltäglichen Nerv sein könnte.
Würde ich den Beruf noch einmal ergreifen? Im Leben nicht. Immer wieder.
Andrea Friedrich
Vorsitzende VBE Landesbezirk Nordbaden, Mitglied des BPR am RP Karlsruhe und des ÖPR am SSA Mannheim