Lederle spricht Klartext: Vom Leben in der Blase oder Ich mach mir die Welt, wie sie mir gefällt

Klartext

Stuttgart ist schon ein eigenes Pflaster. Sorry, aber das muss ich als eingefleischter Badener (nein, nicht Badenser oder kennen Sie vielleicht Frankfurtser?) schon sagen. Okay, die Stadt hat schon was, aber das politische Stuttgart ist in einigen Bereichen schon gewöhnungsbedürftig. Manchmal, aber wirklich nur manchmal, überraschen mich bestimmte Dinge schon sehr. Wie neulich, als ein Politiker etwas sehr Bemerkenswertes zu mir sagte: „Ich weiß ehrlich nicht, warum ich als Bildungspolitiker Ihnen als Praktiker erklären soll, wie Sie Schule zu machen haben. Ich sehe mich da eher in einer dienenden Funktion, die Bedingungen an Schule so zu gestalten, dass Sie gute Schule machen können.“

Das hört man wirklich selten. Chapeau! Zugehört hat er dann auch sehr intensiv und realistisch Auskunft dazu gegeben, was er aufgrund der vielen Sachzwängen für machbar hält und was nicht. Ich bin tatsächlich optimistisch, dass er vieles nicht nur „mitnimmt“ (wie ich diese typische Phrase des politischen Stuttgarts nicht mehr hören kann … ), sondern tatsächlich in seine Arbeit einbezieht. Vielleicht nicht gleich alles und gleich alles sofort, aber vielleicht nach und nach. Das wäre doch mal was.

Viel verbreiteter allerdings ist die Spezies, die vom Alltag an den Schulen, den Sorgen und Nöte der Lehrkräfte wenig bis keine Ahnung hat. Und wenn diese Spezies dann doch mal in eine Schule geht, ja dann natürlich eher in die Hochglanzschule, in der tolle Vorzeigeprojektle laufen. Seltsamer Weise sind diese Schulen dann auch gut versorgt, so dass Raum zur Schulentwicklung entstehen kann, während die Feld-Wald-und-Wiesenschulen personalmäßig eher auf dem Zahnfleisch gehen. Ausgehend von dieser Hochglanzwelt entwickelt sich dann bei besagter Spezies die irrige Annahme, dass es an allen Schulen so toll ist. Und weil die Welt so schön und bunt ist, entwickeln diese Menschen dann ein unglaubliches Sendungsbewusstsein und attestieren Allen, die dies nicht so sehen oder sogar anmahnen, eine „Haltungsproblematik“.

Man müsse sich halt eben nur mal richtig anstrengen, dann klappt das schon.

Man müsse sich halt eben nur mal richtig anstrengen (das tun wir als Lehrkräfte ja eh zu wenig – Vorsicht Ironie!), dann klappt das schon. Wahlweise wird man als Verbandsvertreter dann schon mal angegangen, weil man ja durch das ewige „Gejammer“ (nicht Umstandsbeschreibung) schließlich den Beruf madig machen würde. Kein Wunder also, dass sich immer weniger junge Menschen für den Beruf Lehrkraft entscheiden würden. Der Verbandsvertreter als „Totengräber“ des Berufsstandes und Schulqualitätsverschlechterer. Auch interessant. Ganz gerne wird dann noch Qualitätsdebatte geführt, die eben nicht nur eine Frage der Quantität (oder schlicht dem ausreichenden Vorhandensein von Lehrkräften) sei. Also Gegenvorwurf „strengt euch mal richtig an“ in Kombination mit „Faule Säcke 3.0“, um vom eigenen Versagen abzulenken.  Mein Vater würde hier wohl sicher sagen: „Von nix eine Ahnung, aber anderen erklären wollen, wie sie ihre Arbeit machen sollen.“ Wohl wahr.

Deshalb begeben wir uns jetzt mal in die Welt abseits der Imagebroschüren, in der Leugnen oder Ignorieren der widrigen Umstände einfach nicht hilft. Vielleicht sollten gerade diese Menschen, die das geflissentlich tun, sich genau dorthin begeben. Ein Kollege einer großen Realschule schrieb mir hierzu neulich einen Hilferuf, der so oder so ähnlich sicher auf viele Schulen und Klassen im Land zutrifft:

„Ich schreibe Ihnen diese Mail, da mir meine aktuelle Klassenzusammensetzung (ähnliche Konstellationen gibt es auch in anderen Klassen an unserer Schule) sehr zu schaffen macht und ich mich täglich frage, wie ich als Lehrkraft den alltäglichen Herausforderungen im Schulalltag noch gerecht werden soll, ohne mich dabei kaputt zu machen.

Ist-Situation in einer 7. Klasse

Mittlerweile habe ich in einer 7. Klasse, bestehend aus (nur) 22 SuS, folgende Situation:

– 4 SuS mit G-Niveau (erhöhter Zeitaufwand wegen Differenzierung)

– 3 weitere SuS, die eigentlich ins G-Niveau gehören, die Eltern aber dagegen sind und demnach im Unterricht nicht mitkommen und massiv stören

– 1 Schüler mit vielen Fehlzeiten und Verhaltensauffälligkeiten, Mutter alkoholabhängig (ständiger Austausch mit der Mutter über Fehlzeiten)

– 1 Schülerin mit Epilepsie und Medikamenteneinnahme (ständiger Austausch mit der Mutter und Klinikärzten)

– 2 SuS mit Tendenzen zur Kindeswohlgefährdung (ständiger Austausch mit dem Vater und dem Jugendamt)

– 1 Schüler mit künstlicher Herzklappe, ADHS, Psychotherapie und Medikamenteneinnahme (ständiger Austausch mit der Mutter z.B. über neue Medikation und Dialog mit den Psychologen)

– 1 Schüler mit Autismus (ständiger Austausch mit der Mutter und der Schulbegleitung, Kontakt mit ASD, Hilfeplangespräche, …)

– 1 Schülerin mit Diabetes und Unterbringung im Wohnprojekt (Überwachung des Zuckerspiegels, Austausch mit den Betreuern des Wohnprojekts, …)

D.h. von 22 Schülerinnen und Schüler haben 14 Schülerinnen und Schüler „erhöhten Betreuungsaufwand“, welcher als solcher nicht mehr leistbar ist und die eigentliche Unterrichtszeit sehr einschränkt. Ich bin ausgebildeter Lehrer / Pädagoge, aber kein Psychologe, Arzt, Seelsorger oder Familientherapeut. Auch meine Zeit ist begrenzt.

Entlastung ist dringend nötig

Wir haben die dringende Bitte (auch wenn Ihnen die aktuelle Situation bestimmt von anderen Schulen bekannt ist), dass Sie als Vertretung der Lehrkräfte diese immer mehr belastenden Umstände an das Kultusministerium weiterleiten, so dass die Damen und Herren für den Schulalltag vor Ort und der Arbeit direkt bei den Schülerinnen und Schülern endlich mehr sensibilisiert werden. Wenn es nicht bald eine Entlastung für Schulleitungen, Lehrkräfte bzw. kleinere Klassen gibt, dann wird es in den nächsten Monaten zu noch mehr Personalausfällen aufgrund von Erschöpfung, Burn Out oder zu anderen psychischen Problemen kommen. Auch die Freude am Beruf wird immer mehr in den Hintergrund gedrängt, was den ein oder anderen bereits dazu veranlasst hat, über alternative Berufe nachzudenken.“

Ich versuche zu rekapitulieren: Kein Wunder, dass die Kids immer weniger leisten können, wenn die Lehrkräfte kaum noch effektiv Zeit für Unterricht aufwänden können. Wann wird diese Realität anerkannt? Wann passiert endlich was? Wann schlägt sich dies in den Deputaten nieder? Wann werden wir unterstützt, statt uns in immer mehr Projektle zu treiben? So kann es nicht weiter gehen. Wann kommen endlich multiprofessionelle Teams an die Schulen, damit sich Lehrkräfte wieder mehr aufs Kerngeschäft konzentrieren können? Warum sollte unter diesen Bedingungen, die quasi einer Selbstausbeutung gleichkommen, jemand, der vernünftig denken kann, sich für diesen Beruf entscheiden? 

Durchaus berechtigte Fragen, die sich in Stuggi aber leider viel zu wenige stellen. Lieber verstrickt man sich in ideologische Debatten. Ich verstehe das, aber ich arbeite auch an der Basis und lebe eben nicht in meiner eigenen Blase.

Dirk Lederle, Schulleiter Johanniterschule Heitersheim, Stv. Landesvorsitzender