Unterhält man sich mit Lehrkräften und Schulleitungen an Realschulen, wird einem schnell klar, dass es „Die Realschule“ nicht gibt. Die Realschulen im Land sind nicht nur bezüglich ihrer finanziellen Ausstattung, räumlichen und sächlichen Voraussetzungen, der Schülerschaft oder des soziokulturellen Hintergrunds, sondern auch bezüglich der pädagogischen Konzepte recht unterschiedlich. Einigkeit hingegen besteht weitgehend in der Problembeschreibung des bisherigen Konzepts Realschule nach dem Bildungsplan 2016.
Zusammengefasst und verkürzt kann man sagen, die allgemein ausgemachten Problemfelder liegen hauptsächlich in den Bereichen der Orientierungsstufe und des G-Niveaus.
Problemfeld Orientierungsstufe
Der Wegfall der verbindlichen Grundschulempfehlung (GSE) 2011 unter der damaligen Grün-Roten Landesregierung ist nicht nur an den Schulen des Landes angekommen, sondern im politischen Stuttgart ein auf breiter Basis akzeptierter Grundsatz. An diesem will und wird dort niemand außer der FDP mehr rütteln. Anders formuliert: Man kann dazu stehen wie man will, aber eine Verbindlichkeit wie vor 2011 wird es nicht mehr geben. Übrigens auch deshalb nicht, weil sich gesamtgesellschaftlich in praktisch allen Bereichen bei Entscheidungsprozessen ein höheres Maß an Eigenständigkeit und Beteiligung der betroffenen Akteure durchgesetzt hat. Staatliche Restriktion wird bekanntlich immer kritischer gesehen.
Der Wegfall der Verbindlichkeit führte in der schulischen Realität dazu, dass ein kleiner Teil der Eltern die GSE komplett ignorierte und die Kinder mit einer nicht passenden Empfehlung an den Realschulen anmeldete. Schaut man sich die Übergangszahlen an die weiterführenden Schulen genau an, kann man feststellen, dass diese Zahlen in den vergangenen Jahren nach einem anfänglichen Nonkonformitäts-Hype inzwischen nahezu unverändert bleiben. Im Fall der Realschule sind es ca. 25% der Kinder, die mit einer Empfehlung für die HS/WRS ankommen.
Von diesen anfänglich etwa 25% schafft es dennoch gut die Hälfte einen Realschulabschluss zu erwerben. Mit anderen Worten: Die Realschule ist eine so leistungsstarke Schulart, dass es den Lehrkräften dort gelingt, bei einem Großteil der Schülerinnen und Schüler ihr volles Leistungspotential zu wecken und diese zu einem Realschulabschluss zu führen. Einem Abschluss also, der bei einem nicht geringen Teil der Schülerinnen und Schüler der ursprünglichen GSE nicht entspricht. Dies gelingt keiner anderen Schulart in diesem Umfang.
Zugleich zeigt sich, dass die GSE offenkundig in nahezu 90% der Fälle zutreffend ist. Eine Quote also, die bei man getrost als exzellent bezeichnen kann. Sie spricht für die sehr realistische und differenzierte Betrachtung der Kinder durch die Kolleginnen und Kollegen an den Grundschulen und deren hervorragende Arbeit.
Etwa 10% der Schülerinnen und Schüler kommen mit HS/WRS-Empfehlung
Dennoch bleiben etwa 10% an Schülerinnen und Schülern, die mit einer HS/WRS-Empfehlung an die Realschule kommen und dann auch am Realschulabschluss scheitern. Für diese Kinder ist der Besuch einer Realschule oft mit Enttäuschung und Frustration verbunden. Es sind oftmals Kinder, deren Eltern auf eine sehr klare und gut begründete Grundschulempfehlung nicht hören und trotz Beratung sowie eindeutigen Leistungsrückmeldungen durch die Schule ihr Kind nicht empfehlungsgemäß anmelden wollen. Dies führt im bisherigen Konzept der Orientierungsstufe dazu, dass diese Kinder über mindestens zwei Jahre – durch die Wiederholungsentscheidung der Eltern oft auch drei Jahre – auf einem falschen Niveau unterrichtet und geprüft werden.
Zwei bis drei Jahre, in denen das Kind überwiegend negative Leistungsrückmeldungen erhält und reichlich Misserfolgserlebnisse sammelt. Um in einer solchen Situation motiviert zu bleiben, erfordert es ein hohes Maß an Resilienz, das nur sehr wenige Kinder in diesem Alter mitbringen. Häufiger erlebt man junge Menschen, die vollständig demotiviert sind und mit der Schule als Institution spätestens in Klasse 7 komplett abgeschlossen haben.
Nur noch knapp 300 Haupt-/Werkrealschulen im Land
Ein zweiter Grund, warum Kinder „falsch“ an den Realschulen angemeldet werden, ist ein rein praktischer. Von den ehemals rund 1200 Haupt-/Werkrealschulen des Landes sind aufgrund der regionalen Schulentwicklung nur noch knapp 300 erhalten geblieben. Etwas mehr als 300 ehemalige Hauptschulen/Werkrealschulen haben sich zu Gemeinschaftsschulen weiterentwickelt. Rund die Hälfte der ehemals 1200 Haupt-/Werkrealschulen fehlt heute in der Fläche. Dieser Umstand führt zu einem Mangel an schulischen Alternativen – nicht an Schulplätzen – und dies nicht nur auf dem platten Land. Städtische Ballungsräume sind hiervon genauso betroffen.
Wo sollten diese Kinder also hin? Nicht jeder sieht sein Kind an einer GMS, weil er vielleicht das pädagogische Konzept nicht nachvollziehen kann/will oder weil diese als gebundene Ganztagsschule nicht zum Lebenskonzept der Familie passt. Auch hier gilt es realistisch zu bleiben. Davon zu träumen, dass Schulträger geschlossene oder zu Ganztagesgrundschulen umfirmierte Hauptschulen wieder eröffnen, mag für manche ein Wunschzustand sein, faktisch wird dies nicht stattfinden. Warum auch? Aus deren Sicht sind genügend Schulplätze vorhanden, womit auch eine Bezuschussung einer Neugründung nahezu ausgeschlossen ist. Aus Sicht des Steuerzahlers wohl auch nicht ganz unbegründet.
Problemfeld G-Niveau
Die Praxis zeigt, dass der Umgang mit dem G-Niveau Probleme bereitet. Viele Realschulen haben sich dazu entschieden, das G-Niveau in homogenisierten Lerngruppen oder festen G-Zügen anzubieten. Gerade aber kleine Realschulen stellt dies organisatorisch vor große Probleme, da die Anzahl an G-Schülerinnen und -Schüler dort oftmals nicht ausreicht, um einen separaten Zug zu bilden. Adaptives Unterrichten ist hier oft die einzige Lösung, für viele Lehrkräfte ist dies allerdings eine sehr belastende Lösung. Ein weiteres Problem zeigt sich in diesem Zusammenhang auch für die M-Züge. Da diese organisatorisch nicht unabhängig vom G-Zug betrachtet werden, führt dies sehr oft zu einem Aufblähen der Schülerzahlen in den M-Zügen.
Für viele Realschulen stellt sich zudem die Frage der Notwendigkeit eines solchen G-Niveaus und damit des Angebots eines Hauptschulabschlusses. Dies sind nicht nur Schulverbünde aus Realschule und Haupt-/Werkrealschule oder Gemeinschaftsschule, die sich sozusagen im eigenen Haus Konkurrenz machen, sondern auch Realschulen, die in der Umgebung schulische Alternativen besitzen, an denen ein Hauptschulabschluss zu erlangen ist. Warum also sollte man gerade an diesen Schulen unter Einsatz erheblicher personeller und finanzieller Ressourcen ein G-Niveau anbieten?
Es gibt auch Realschulen, die inzwischen eigene Schulkonzepte entwickelt haben und das G-Niveau im eigenen Bereich als Bereicherung und Notwendigkeit ansehen. Vor allem diese Schulen wünschen sich, das G-Niveau bereits ab Klassenstufe 5 anbieten zu können.
Lösungsstrategie 1 – mehr Gewicht für die GSE:
Für den VBE ist klar, dass man dringend an diesem Bereich ansetzen muss.
Um den Eltern noch mehr Entscheidungshilfen an die Hand zu geben, hat der VBE bereits vor geraumer Zeit in einer breit angelegten Diskussion des Grundschulreferats zusammen mit dem Referat Sekundarschule ein eigenes Konzept zur weiteren Stärkung der GSE erarbeitet. Auch hier zeigt sich der Vorteil eines so großen und breit aufgestellten Verbands, wie dem VBE: Breiter Diskurs mit Expertinnen und Experten aller (!) betroffenen Schularten und eben nicht nur eine eindimensionale Diskussion von Personen, die das Problem nur von der Grundschulseite oder nur von der Realschulseite aus betrachten und bestenfalls einen marginalen Einblick in die jeweils andere Schulart haben. Dieses VBE-Konzept („Mehr Gewicht für die Grundschulempfehlung“) beruht im Grunde auf zwei Säulen:
- Einer zentralen landeseinheitlichen Klassenarbeit in Klassenstufe 4, die eine der 6 bzw. 8 Klassenarbeiten im Schuljahr ersetzt. Eltern sollen hierdurch eine objektivierte Rückmeldung zum aktuellen und tatsächlichen Leistungsniveau ihres Kindes in den Fächer Deutsch und Mathematik erhalten.
- Die verbindliche Teilnahme am besonderen Beratungsverfahren, sollte das Kind an einer Schulart angemeldet werden, für die das Kind keine GSE hat. Erst danach können die Eltern dann ihr Kind definitiv anmelden.
Über die Ergebnisse der zentralen Klassenarbeit und auch des besonderen Beratungsverfahrens muss die aufnehmende Schule in Kenntnis gesetzt werden.
Lösungsstrategie 2 – adaptives G-Niveau:
Die Heterogenität der Realschulen im Land erfordert ein breit gefächertes Konzept für die Realschulen. Das Konzept des VBE beruht hier auf vier Elementen:
- Die Kürzung der Orientierungsstufe um ein Jahr und der früheren Möglichkeit spätestens nach Klassenstufe 5 ggf. ein G-Niveau anzubieten.
- Der Wiedereinführung der Versetzungsentscheidung von Klassenstufe 5 nach 6.
- Der Möglichkeit das G-Niveau an einer anderen Schule zu besuchen. Dies kann sowohl an einer alternativen Schulart geschehen, wie auch im Bereich einer anderen Realschule, mit der man lokal/regional kooperiert.
- Der Möglichkeit ggf. das G-Niveau grundständig an der eigenen Schule anzubieten. Dabei sollte es möglich sein, dies entweder integrativ oder äußerlich differenziert zu tun. Eine äußere Differenzierung darf aber nicht zu Lasten der M-Züge gehen. Für G-Züge gelten eine separate organisatorische Betrachtung und ein geringerer Klassenteiler. Zusätzlich hierzu benötigen diese Realschulen eine erhöhte Zuweisung an Ressourcen, um das G-Niveau auch durchgängig anbieten zu können. Zur Finanzierung dieser Konzepte wäre auch ein Querfinanzierung der Ressourcen innerhalb der Schulart Realschule denkbar.
Weiterführende Infos
Hier finden Sie das Realschulkonzept des VBE BW in seiner visualisierten Fassung.