Inklusion – Sorgfalt statt Eiltempo

Grundsätzlich ist das Thema Inklusion ein positiver Grundgedanke, mit einem guten pädagogischen Ansatz. Gegenseitige Anerkennung und Wertschätzung im Umgang mit Diversität kann und ist für Schülerinnen und Schüler, Kolleginnen und Kollegen eine neue Perspektive an der man wachsen kann. Nicole Bündtner und Nadine Possinger vom VBE sind der Meinung, dass die notwendigen Voraussetzungen für eine gelungene Umsetzung durch gute vorausschauende Planung beachtet werden muss.

Nicole Bündtner Referat Junge Lehrkräfte im VBE Südbaden
Nicole Bündtner
Referat Junge Lehrkräfte
im VBE Südbaden
Nadine Possinger Referat Realschule im VBE Südbaden
Nadine Possinger
Referat Realschule im VBE Südbaden

Die Inklusion soll im kommenden Schuljahr 2015/16 ins Schulgesetz aufgenommen werden und in Kraft treten. Eltern/Erziehungsberechtigte dürfen dann relativ frei entscheiden auf welche Schule sie ihr Kind schicken. Schon jetzt wird in den unterschiedlichsten Schularten inkludiert, Chancen und Möglichkeiten der Inklusiongetestet und weiterentwickelt. Noch im Jahre 2009 war man der Auffassung, dass Inklusion kostenneutral geschehen soll. Das ist unvorstellbar! Es ist doch ersichtlich, dass eine einwandfreie Umsetzung nur durch die notwendigen finanziellen, räumlichen und sachlichen Mittel möglich ist.

Aktuell streitet sich die Landesregierung um die Finanzierung mit den Schulträgern. Es soll nach dem Konnexitätsprinzip („wer bestellt – bezahlt“) vorgegangen werden. Dies hat zur Folge, dass Schulträgern mit geringen finanziellen Möglichkeiten die Hände gebunden sind. Die Gültigkeit dieses Vorhabens wird derzeit vom Land geprüft. Momentan steht einem Kind mit einem Anspruch auf Sonderpädagogische Förderung ein Stundenkontingent für eine professionelle Fachkraft von cirka drei Stunden pro Unterrichtswoche zur Verfügung, und das nur, wenn die Sonderschule über ausreichende Ressourcen verfügt. Bereits in der ersten Klasse haben Kinder einen Stundenplan von 22 Wochenstunden. Die restlichen 19 Stunden in der Woche muss das inkludierte Kind ohne Fachkraft auskommen. Die unterrichtende Lehrkraft hat dementsprechend die Aufgabe die Kinder so gut wie möglich in den Unterricht zu integrieren. Dies stellt eine enorme Arbeitsbelastung für die Lehrkraft dar, welche sie gegebenenfalls ohne Zusatzqualifikation (z. B. Fortbildungen) leisten soll und muss.

Der VBE fordert, dass die Finanzierung geklärt wird, bevor das Schulgesetz in Kraft tritt. Zudem muss im Unterricht mit dem Zweilehrerprinzip bzw. Tandemprinzip gearbeitet werden. Das heißt, dass zusätzlich zu der unterrichtenden Lehrkraft eine weitere Fachkraft für die Kinder und Jugendlichen mit Anspruch auf sonderpädagogische Förderung 1:1 zur Verfügung stehen.

Zudem müssen die entsprechenden Rahmenbedingungen und Ressourcen für die optimale Förderung der Kinder und Jugendlichen mit und ohne Handicap gewährleistet werden. Das bedeutet, dass entsprechendes Unterrichtsmaterial, notwendige sächliche Voraussetzungen (wie Hörgeräte, Schallschutzklassenzimmer, Geräte für Hörgeschädigte, Rampen und Aufzüge für Rollstuhlfahrer  …)  und Sonderschullehrer- und notwendige Schulbegleiter vorhanden sein müssen. Auch für ausreichende Krankheitsvertretung muss gesorgt sein.

(Hinweis: Es besteht nur für die Kinder ein Anspruch auf sonderpädagogische Förderung, wenn dieser Anspruch vom SSA festgestellt wurde. Es gibt im Bereich der Lernbehinderung viele Kinder, die nie überprüft wurden und daher auch keinerlei Ansprüche auf sonderpädagogische Unterstützung haben.  Deshalb ist es wichtig, dass die Kolleginnen der Regelschule diese Kinder zur Überprüfung melden.)

Schülerinnen und Schüler mit Behinderung, die an den Regelschulen mit den notwendigen Voraussetzungen gefördert werden können, sollen dort auch die Möglichkeit der Beschulung bekommen. Sind die notwendigen Voraussetzungen nicht gegeben, so ist eine Beschulung an einer entsprechend ausgestatteten Sonderschule  für alle am Schulleben Beteiligten die bessere Lösung.

Wenn die Landesregierung weiterhin unbedacht Dinge in die Wege leitet ohne vorausschauend zu planen, steht irgendwann die Schule „light“ im Zentrum des Geschehens. Wir wollen eine GUTE SCHULE und keine Schule „light“ bei der es schlichtweg nur um die Grundversorgung geht. Die wichtigen Aspekte müssen vor der Durchführung abgeklärt werden, damit alle am Schulleben Beteiligten es als gewinnbringend empfinden und die Qualität des Unterrichts gewährleistet werden kann.

VBE: Schulen warten weiter auf die Inklusion

Der Landesregierung fehlt schlichtweg das Geld zur Umsetzung

Stuttgart. „Inklusion ist seit einiger Zeit das Thema an den Schulen. Aber außer in den fünf Modellregionen im Land tut sich offiziell auf diesem Gebiet wenig“, sagt der Landesvorsitzende des Verbandes Bildung und Erziehung (VBE) Baden-Württem­berg, Gerhard Brand. Die Lehrer fühlten sich – wie so oft in letzter Zeit – mehr oder weniger damit allein gelassen. Dass die Landesregierung das Gesetz zur In­klusion jetzt weiter auf die lange Bank schiebe, sei nachvollziehbar. Für die Umsetzung fehle schlichtweg das Geld, seien die Schulen zu wenig vorbereitet.

VBE Landesvorsitzender Gerhard Brand

Gerhard Brand, VBE Landesvorsitzender

Wenn infolge der UN-Konvention und den Bemühungen um Inklusion von Elternseite die Integration von Schülern mit eigentlich sonderpädagogischem Förderbedarf so um­gesetzt werden würde, dass alle heute Sonderschulen besuchenden Kinder und Jugend­liche in allgemein bildenden Schulen aufgenommen werden müssten – sei es in die Hauptschule, in der Gemeinschaftsschule oder auch im Gymnasium -, wäre deren be­sonderer Förderbedarf trotzdem weiterhin gegeben.

Die Politik muss folglich alles unternehmen, dass künftig an allen Schulen die perso­nellen, räumlichen und sächlichen Ressourcen so vorhanden sind, dass Kinder mit einem Handicap nicht noch einmal zusätzlich benachteiligt würden, weil die Rahmen­bedingungen für eine inklusive Beschulung nicht vorhanden sind. Das differenzierte Sonderschulwesen in Baden-Württemberg leistet zurzeit einen fachlich hoch angesie­delten Beitrag zur Integration Benachteiligter, wird aber trotzdem immer wieder in Frage gestellt.

„Es darf nicht sein“, unterstreicht Brand, „dass man bei der angestrebten inklusiven Beschulung so verfährt wie etwa bei der Einführung neuer Fächer oder Fächerverbünde: indem man zunächst diese an den Schulen installiert und erst dann die Lehrkräfte gründ­lich darauf vorbereitet beziehungsweise aus- und fortbildet. Grund-, Haupt-, Realschul- und Gymnasiallehrkräfte wären ohne eine gründliche sonderpädagogische Ausbildung ziemlich hilflos und würden der Sache mehr schaden als nützen. Wer die Inklusion soweit vorantreiben will, dass behinderte und nicht behinderte Schüler wie selbstver­ständlich nebeneinander und miteinander lernen, muss zuerst die Bedingungen dafür schaffen, anstatt Schüler und Lehrer ins kalte Wasser zu werfen und auf Selbstheilungs­kräfte zu vertrauen. Die Vorbereitung auf ein neues Bildungszeitalter kostet nicht nur sehr viel Geld, sondern benötigt vor allem Vorlaufzeit. „Diese Einschränkungen entbin­den die Politik nicht davon, die Inklusion offensiver anzugehen“, so Brand.

Deutscher Lehrertag 2012 in Mannheim

Kinder müssen Gewinner der Inklusion sein

Mit mehr als 700 Teilnehmerinnen und Teilnehmern findet heute der Deutsche Lehrertag 2012 im Mannheimer Rosengarten Congress Center statt. Der wichtigste bundesweite Weiterbildungstag für Lehrerinnen und Lehrer aller Schulstufen steht in diesem Jahr unter dem Motto: „Anders sein ist normal. Heterogenität als Herausforderung“.

Udo Beckmann, VBE Bundesvorsitzender

Zur Eröffnung des Deutschen Lehrertages 2012 stellte VBE-Bundesvorsitzender Udo Beckmann fest: „Die Schaffung eines inklusiven Bildungssystems auf allen Ebenen ist die zentrale Aufgabe der bundesdeutschen Schul- und Bildungspolitik auf lange Sicht.“ Im Mittelpunkt habe das Wohl eines jeden Kindes zu stehen. Das erfordere zusätzliche personelle, sächliche und räumliche Ressourcen. Beckmann forderte, die Haushalte von Bund, Ländern und Kommunen so umzuschichten, dass dem Wohl jedes Kindes angemessene Lern- und Förderbedingungen bereitgestellt würden. „Nirgendwo in der UN-Behindertenrechtskonvention steht“, so Beckmann, „dass die Bedürfnisse der Kinder das Wohl der Haushalte sichern müssen. Gewinner der Inklusion müssen die Kinder sein und eben nicht die Haushälter.“

Beckmann weiter: „Die verantwortlichen Etagen der Politik müssen deshalb dringend die Weichen umstellen, sonst fährt die Inklusion vor die Wand!“ Die Schaffung eines inklusiven Bildungssystems sei eine gemeinsame Aufgabe von Bund, Ländern und Kommunen. Als gravierende Schwachstelle erweise sich das Kooperationsverbot von Bund und Ländern im Bildungsbereich. „Spätestens seit der Unterzeichnung der UN-Behindertenrechtskonvention ist die Zeit dafür reif, den Föderalismus weiterzuentwickeln. Das Kooperationsverbot von Bund und Ländern im Bildungsbereich muss fallen.“ Der VBE werde auch weiterhin jede Gesetzesinitiative in diese Richtung unterstützen.

VBE Landesvorsitzender Gerhard Brand

Gerhard Brand, VBE Landesvorsitzender

Gerhard Brand, Landesvorsitzender des VBE Baden-Württemberg, betonte, das Engagement der Lehrerinnen und Lehrer müsse von der Politik anerkannt und aktiv unterstützt werden. Gemeinsamen Unterricht zu verordnen und gleichzeitig nicht die nötigen Gelingensbedingungen in den Schulen zu gewährleisten, konterkariere letztlich die UN-Behindertenrechtskonvention.

Brand forderte „einen breiten Dialog mit allen Betroffenen, die Sicherstellung des Lehrerbedarfs und die Ausrichtung der Lehrerbildung auf die Schwerpunkte Heterogenität und Inklusion“.

Der Vorsitzende des Verband Bildungsmedien e. V., Wilmar Diepgrond, sagte: „Heterogenität ist eine Herausforderung, der wir offen begegnen können. Uns ist es ein Anliegen, Lehrkräfte hierbei zu unterstützen.“ Wichtige Voraussetzung für gelingende In- klusion sei die ausreichende Finanzierung des Schulsystems. Diepgrond bemängelte besonders die stetig sinkenden Ausgaben im Bildungsbereich, Streichungen bei den Lehrerstellen und die häufig unzureichende Ausstattung von Schulen mit Hard- und Software.

Gastrednerin auf dem Deutschen Lehrertag ist Baden-Württembergs Kultusministerin Gabriele Warminski-Leitheußer. Der Freiburger Neurobiologe, Arzt und Psychotherapeut Prof. Dr. Joachim Bauer hält den Hauptvortrag zum Thema „Im Anderen das Gemeinsame entdecken: Der Weg zu Resonanz und Empathie mit dem Fremden“. 36 Workshops vermitteln Erfahrungen und Anregungen zum Umgang mit Heterogenität in der schulischen Praxis.

29.11.2012

VBE: Sonderschulen leisten sehr gute Arbeit – benachteiligte Kinder werden optimal gefördert

Stuttgart. Der Verband Bildung und Erziehung (VBE) sieht das differenzierte Sonderschul­wesen*, so wie es in Baden-Württemberg derzeit eingerichtet ist, nicht als negativ an, und ein Überwechseln von Kindern auf diese Schulart auf keinen Fall als ein „Aussortieren“ oder „Abschieben“, wie es immer wieder heißt.

Der VBE hält eigenständige Sonderschulen auch nach der UN-Konvention weiterhin für erforderlich, solange schon allein aufgrund der schlechteren raumlichen, sächli­chen und personellen Ausstattung der Regelschulen dort nicht alle Kinder optimal ge­fördert werden können und in viel zu großen Klassen „untergehen“ würden.

Die Sonderschulen in Baden-Württemberg sind nach Ansicht des VBE hervorragend aufgestellt, die Pädagogen fachlich bestens ausgebildet. In den neun verschiedenen Sonderschultypen sind professionelle Rahmenbedingungen für eine individuelle, kind­gerechte Bildung und Erziehung gegeben.

Immer wieder wird von Eltern versucht – manchmal auch „mit der Brechstange“, zum Teil schwerstbehinderte Kinder in Regelschulen unterzubringen, selbst wenn dort nicht die entsprechenden Fördermöglichkeiten vorhanden sind. Dadurch würden so­wieso schon benachteiligte Kinder noch einmal benachteiligt.

Für den VBE ist es unbestritten, dass alle behinderten Kinder einer optimalen För­derung bedürfen, um ihnen den bestmöglichen Einstieg in eine eigenverantwortliche Lebensbewältigung zu geben. Der Besuch einer allgemeinen Schule kann für Kinder mit sonderpädagogischen Förderbedarf sinnvoll sein, wenn an dem gewünschten Schulort die Voraussetzungen stimmen. Dies ist in Ermangelung der nötigen Finanz­mittel an den wenigsten Schulen zurzeit der Fall. Wegen der umfassenden gezielten effektiven Förderung der Kinder sind Sonderschulen daher ein Baustein zur Integra­tion und kein Ort der Ausgrenzung.

Leider ist die Versorgung dieser Schulart mit Lehrerstunden keinesfalls ausreichend, um nicht zu sagen mangelhaft. Es geht jedoch kein Aufschrei durch das Land, der Kul­tusministerin werden keine Aktenordner mit Unterschriften übergeben und kein Außenstehender macht sich für eine bessere Unterrichtsversorgung der Sonderschüler stark, denn die haben selten eine Lobby.

19. Oktober 2012

 

* Im Paragraf 15 des Schulgesetzes heißt es:

„Die Sonderschule dient der Erziehung, Bildung und Ausbildung von behinderten Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf, die in den allgemeinen Schulen nicht die ihnen zukommende Erziehung, Bildung und Ausbildung erfahren können.“

Ab 2013 sollen im Rahmen der „Inklusion“ sukzessive alle Schüler an allgemeinbildenden Schulen Aufnahme finden können, wenn deren Eltern dies so wollen.

Es gibt in Baden-Württemberg neun Sonderschularten:

–    die Förderschule

–    Schule für Blinde

–    Schule für Erziehungshilfe

–    Schule für Geistigbehinderte

–    Schule für Hörgeschädigte

–    Schule für Körperbehinderte

–    Schule für Sehbehinderte

–    Schule für Sprachbehinderte und

–    Schule für Kranke in längerer Krankenhausbehandlung

Inklusion kostet Millionen

Der Verband Bildung und Erziehung (VBE) stellt erfreut fest, dass es mit der kürzlichen Vorlage der Bertelsmann-Studie von Prof. Dr. Klaus Klemm erstmals gelungen ist, nachzuweisen, dass Inklusion nicht zum Nulltarif zu haben ist.

Uschi Mittag, VBE-Referatsleiterin Sonderschulen

Nach Ansicht der VBE-Referatsleiterin Sonderschulen, Uschi Mittag, (Ehingen), sind die darin errechneten Zahlen zwar weit untertrieben, aber erstmals wird deutlich, dass die Politik davon Abstand nehmen können muss, Inklusion alleine auf dem Rücken der Lehrkräfte zu betreiben. Diese kommen durch eine inzwischen deutlich heterogene Schülerschaft immer näher an die Grenzen ihrer Belastbarkeit. Der Wegfall der verbindlichen Grundschulempfehlung tut in allen Schularten ein weiteres dafür. „Inklusion – das gemeinsame Lernen von behinderten und nicht behinderten Kindern – kann nur durch Einsatz von mehr Personal und durch Umschichtung von Finanzen im Landeshaushalt erfolgen. Mehr Bildungsgerechtigkeit -dazu gehört auch die Inklusion-, wie es sich grün-rot auf die Fahnen geschrieben hat, kann nur erreicht werden, wenn die Rahmenbedingungen personeller, sächlicher und räumlicher Art stimmig gemacht werden.“

Prof. Dr. Klemm hatte ausgerechnet, dass bundesweit 10 000 Lehrkräfte eingestellt werden müssten und dafür – nur fürs Personal – 660 Millionen Euro Kosten entstünden. Lehrer im Land  Nordrhein-Westfalen (NRW) hatten daraufhin reklamiert, dass alleine so viele Lehrkräfte in NRW gebraucht würden, dass die Berechnungen also deutlich zu niedrig seien. Der VBE Baden-Württemberg unterstützt diese These, denn so Mittag: „Inklusion kostet und kann niemals ein Sparmodell sein.“ Erschwerend kommen zwei weitere Belastungen dazu: Klassen mit bis zu 30 Schülern, wie sie in den weiterführenden Schulen gang und gäbe sind, sind der Inklusion kontraproduktiv. Der VBE geht in seinen Forderungen schon seit Jahren von 22-er Klassen aus. Wenn dann Kinder in diesen Klassen inklusiv beschult werden müssen, so sind diese Kinder doppelt zu zählen. Zudem machen inklusive Klassen eine Doppelbelegung von einer allgemeinbildenden Lehrkraft plus eines Sonderpädagogen notwendig, und das nicht nur bei zwei Stunden pro Woche, sondern bei drei Vierteln des Unterrichts. Wenn man aber wisse, so Uschi Mittag, dass in Baden-Württemberg viele der in Sonderschulen tätigen Lehrkräfte gar keine ausgebildeten Sonderschullehrkräfte sind, dann könne man nur erahnen, wie schwer sich das Land damit tun werde, den die Wunschvorstellung formulierenden Worten auch die entsprechenden Taten folgen zu lassen. Der VBE Baden-Württemberg plädiert für eine inklusive Schule dort, wo sie Kinder fördern kann und die Rahmenbedingungen stimmen. 

Gewissenserforschung zum Thema „Inklusive Beschulung

Statt Antworten, die keiner hat – viele Fragen

Mit diesem Arbeitstitel hat die Arbeitsgruppe Schule und ethische Bildung vom Regierungspräsidium Tübingen 2006 eine Broschüre betitelt. Da im Blick auf UN-Konvention und Umsetzung der inklusiven Beschulung vieles ungeklärt ist, bediene ich mich dieses Titels und stelle die folgenden Fragen in den Raum: 

  • Gibt es klare Vorgaben für die inklusive Beschulung?
  • Kann garantiert werden, dass sich die Arbeitsbedingungen für alle Schülerinnen und Schüler – aber auch für die Lehrkräfte – nicht verschlechtern?
  • Gibt es Lehrkräfte, die diesen schulischen Anforderungen entsprechen können?
  • Haben sie gelernt, mit Lernstörungen und Verhaltensauffälligkeiten – bis hin zum Psychiatriebedarf – umzugehen?
  • Gibt es Rahmenbedingungen, um im Bedarfsfall eingreifen zu können? (Auszeitraum / betreuendes Personal)
  • Hat der Elternwille grundsätzlich Vorrang, auch wenn vor Ort die adäquate sonderpädagogische Förderung nicht umgesetzt werden kann?
  • Sind Schulleitungen darauf vorbereitet, Belastungsgrenzen bei ihren Kolleginnen und Kollegen zu erkennen und angemessen zu reagieren?
  • Stehen ihnen dafür Ressourcen zur Verfügung?
  • Gibt es Sonderpädagogen, die zur Verfügung stehen, um ständig an der Regelschule zu sein – natürlich aus den verschiedenen Fachrichtungen, denn sonst macht es keinen Sinn?
  • Gibt es eine Zusammenarbeit des KM mit dem Sozialministerium, um die Rahmenbedingungen von Jugendhilfe, Eingliederungshilfe und Schulsystem in Bezug auf Inklusion abzustimmen?
  • Gibt es Definitionen über die Verpflichtung der Schulträger? (Umbaukosten / Betreuungskräfte / Fahrkosten…?)
  • Gibt es darüber hinaus Fachdienste, die die notwendige Unterstützung liefern: Krankenschwester, Ergotherapie, Physiotherapie, Logopäden… und wer finanziert diese? (Wenn ich es richtig verstanden habe, soll niemand vom Regelbesuch ausgeschlossen werden!)

 Anmerken möchte ich, dass ich seit mehr als 20 Jahren im Sonderpädagogischen Dienst arbeite und die Schülerinnen und Schüler – wo immer möglich – an den Regelschulen belassen habe.

Es geht mir nicht um Sonderbeschulung als einzigen Weg, es geht mir vielmehr um eine realistische und nicht um eine ideologische Einschätzung der pädagogischen Alltagsbewältigung.

Wir wollen doch eine schulische Verbesserung für alle Schülerinnen und Schüler erreichen und die Qualität der Förderung erhalten, oder?

Über ideologiefreie, sachliche, konstruktive Rückmeldungen würde ich mich freuen. 

Uschi Mittag, VBE-Referatsleiterin Sonderschulen

VBE sieht große Not im Sonderschulbereich

Pädagogen fehlt eine entsprechend starke Lobby in der Gesellschaft

Stuttgart. Der Verband Bildung und Erziehung (VBE) sieht die Sonderschulen in Ba­den-Württemberg zurzeit ein wenig im Abseits. Die VBE-Referatsleiterin Uschi Mittag macht bereits vor Schuljahresbeginn eine „große Not“ bei der Versorgung der Schulen mit Sonderpädagogikstunden aus.

Uschi Mittag, VBE-Referatsleiterin Sonderschulen

Vor ernsten Erkrankungen sind auch Sonderschulpädagogen nicht gefeit. „Was aber besonders prekär ist“, klagt die VBE-Referatsleiterin Mittag, sei, dass es nur eine ganz kurze Liste mit Namen von Lehrern gebe, die die sonderpädago­gische Ausbildung absolviert haben und als Krankheitsvertretung in Betracht kommen könnten. So müssten an Sonderschulen auch Grund- und Hauptschul­lehrer, Erzieher, Heilpädagogen und Physiotherapeuten als Krankheitsvertretung eingesetzt werden, sofern sie überhaupt zur Verfügung stehen. Junge Kollegin­nen werden schwanger und dürfen aufgrund des Beschäftigungsverbotes schon lange vor Beginn des Mutterschutzes nicht mehr eingesetzt werden. Da dieses Fehlen aber nicht als Krankheit gilt, ist es schwierig, Ersatz für die ausfallenden Stunden zu bekommen.

Außenklassen und Kooperationsklassen haben sich intensiv auf den Weg ge­macht, wissen aber teilweise nicht mehr, wie sie mit den zugewiesenen Ressour­cen all die Pflichtfelder abdecken sollen – denn diese Neuerungen werden in der Lehrerstundenzuweisung nicht genügend berücksichtigt, obwohl jede Koopera­tionsklasse rund 12-15 Lehrerwochenstunden zusätzlich benötigt.

Die Förderschulen werden – entsprechend dem Organisationserlass – prozentu­al der Gesamtschülerzahl des Einzugsgebietes mit Lehrerstunden versorgt, ob­wohl die Zahl der Schüler in den Förderschulen nicht analog zu der der übrigen Schulen zurückgeht. „So entstehen zwangsläufig zusätzliche Defizite“, klagt Mittag.

Wenn Eltern im Zuge der Inklusionsbemühungen auf einer Beschulung des behinderten Kindes an der örtlichen Grundschule bestehen, müssen Grundschul­kollegen das sonderpädagogische Bildungsangebot umsetzen, ohne dafür ent­sprechend ausgebildet zu sein.

Der VBE hofft nun auf die Zusage der neuen Landesregierung, mehr Sonder­schulpädagogen einzustellen, die dann auch an den Grundschulen für bedarfs­gerechte Angebote sorgen könnten.

28. August 2011

VBE: Auch an Gemeinschaftsschulen werden Sonderschullehrer benötigt

VBE Landesvorsitzender Gerhard Brand

Gerhard Brand, VBE Landesvorsitzender

Stuttgart. „Selbst wenn alle Sonderschulen per Gesetzesänderung völlig abgeschafft werden würden, wird man Lehrkräfte mit einer gründlichen sonderpädagogischen Ausbildung auch künftig mehr denn je benötigen“, sagt der Landesvorsitzende des Verbandes Bildung und Erziehung (VBE) Baden-Württemberg, Gerhard Brand.

Wenn infolge der UN-Konvention und den Bemühungen um Inklusion die Integration von Schülern mit eigentlich sonderpädagogischem Förderbedarf so um gesetzt werden würde, dass alle heute Sonderschulen besuchenden Kinder und Jugendliche in allgemein bildenden Schulen aufgenommen werden müssten – sei es in die Hauptschule oder in die Gemeinschaftsschule, wäre deren besonderer Förderbedarf trotzdem weiterhin gegeben.

Die Politik muss folglich alles unternehmen, dass künftig an allen Schulen die personellen, räumlichen und sächlichen Ressourcen so vorhanden sind, dass Kinder mit einem Handicap nicht noch einmal zusätzlich benachteiligt würden, weil die Rahmenbedingungen für eine inklusive Beschulung nicht vorhanden sind. Das differenzierte Sonderschulwesen in Baden-Württemberg leistet zurzeit einen fachlich hoch angesiedelten Beitrag zur Integration Benachteiligter.

Es darf auch nicht sein, dass man bei der angestrebten inklusiven Beschulung so verfährt wie bei der Einführung neuer Fächer oder Fächerverbünde, indem man zunächst diese an den Schulen installiert und erst dann die Lehrkräfte gründlich darauf vorbereitet beziehungsweise aus- und fortbildet. Grund-, Haupt-, Realschul- und Gymnasiallehrer wären ohne eine gründliche sonderpädagogische Ausbildung ziemlich hilflos und würden der Sache mehr schaden als nützen. Wer Integration soweit vorantreiben will, dass behinderte und nicht behinderte Schüler wie selbstverständlich nebeneinander und miteinander lernen, muss zuerst die Bedingungen dafür schaffen, anstatt Schüler und Lehrer ins kalte Wasser zu werfen und auf Selbstheilungskräfte zu vertrauen. Die Vorbereitung auf ein neues Bildungszeitalter kostet nicht nur sehr viel Geld, sondern benötigt vor allem Vorlaufzeit. Diese Einschränkungen entbinden die Politik nicht davon, die Inklusion offensiv anzugehen.

15. Juli 2011